EZ/OZ: 2649/1
Selbstständiger Antrag von Abgeordneten (§ 21 GeoLT)
eingebracht am 12.01.2009, 13:18:22
Landtagsabgeordnete(r): Edith Zitz (Grüne), Ingrid Lechner-Sonnek (Grüne), Lambert Schönleitner (Grüne)
Fraktion(en): Grüne
Zuständiger Ausschuss: -
Regierungsmitglied(er): Kurt Flecker, Bettina Vollath, Johann Seitinger
Betreff:
Offensive gegen Armut und soziale Ausgrenzung und für Gerechtigkeit im ländlichen Raum
Im September 2008 erschien die von der Europäischen Kommission beauftragte Studie "ARMUT UND SOZIALE AUSGRENZUNG IM LÄNDLICHEN RAUM". Dies stellt die erste systematische Auseinandersetzung mit dieser brisanten Fragestellung innerhalb der EU dar. Fünfzehn Länder - 14 EU-Mitgliedstaaten - Italien, Spanien,
Griechenland, Portugal, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Irland, Slowenien, Ungarn, Polen, Lituanien, Bulgarien und Rumänien - und ein EWR-Mitgliedstaat - Norwegen - wurden dabei untersucht. Die Studie stellt fest, dass der ländliche Raums auf EU-Ebene bei den bisherigen Untersuchungen vernachlässigt wurde. Sie hält weiters fest: "Leider haben die politischen Maßnahmen … zur Armut in den meisten Mitgliedsstaaten die ländlichen Armen nicht als Ziel."
Länderspezifisch unterschiedliche Definitionen von "ländlichen Gebieten" - wie zerstreut lebende Bevölkerung, landwirtschaftbezogene Ökonomie, die Entfernung zu Großstädten, mangelhafte Zugänglichkeit zu wichtigen Dienstleistungen - zeugen davon, dass es keine einheitliche Definition von "ländlichem Raum" auf europäischer Ebene gibt.
Eurostat definiert die Armutsgefährdungsquote als "Bevölkerungsanteil, der über ein Einkommen verfügt, das unter dem auf 60% des national verfügbaren
Durchschnittseinkommen gesetzten Schwellenwert der Armutsgefährdung liegt".
Einige Aspekte dieser EU-Studie sind auffallend und alarmierend, da sie das hohe Risikopotential von Armutsgefährdung im ländlichen Raum empirisch belegen und zugleich davon zeugen, dass das politische Engagement dagegen massiv zu wünschen übrigläßt.
Punkt 27 der Studie stellt fest: "Das Risiko der Armut und der sozialen Ausgrenzung ist oft viel schwieriger im ländlichen Raum als im städtischen Raum zu erkennen …. Diese Erkenntnisse führen zum Schluss, dass ländliche Gebiete ein höheres Armutsrisiko aufweisen als städtische Gebiete ...".
Zur Bevölkerungsalterung aus Gender-Sicht, Punkt 33 ff.: Weil Frauen länger leben, ist ein großer Anteil der von älteren Leuten geführten Haushalte von alleinstehenden Frauen zusammengesetzt. In Westeuropa weist die Kategorie von alleinstehenden älteren Frauen ein spezifisches soziales Problem auf.
Punkt 66 hält fest, dass keine systematische und vollständige Analyse der ländlich und städtisch geprägten Einkommensarmut in Europa existiert - wegen unzureichender Informationen.
Zur Geschlechterfrage, Punkt 36: In bestimmten ländlichen Gebieten wurde eine starke Abwanderungstendenz in die Städte seitens erwerbstätiger Frauen registriert, was zu einer gewissen "Maskulinisierung" am Land führt und sich negativ auf die Fertilitätsrate auswirkt. In einigen ländlichen Gebieten des Mittelmeerraums (Süditalien, Spanien, Griechenland) sind Frauen häufiger gezwungen, nach Beschäftigungsaussichten in urbanen Gebieten zu suchen, während Frauen in Osteuropa eher ins Ausland wandern, um Arbeit zu finden.
Punkt 37: In anderen Ländern, wie zum Beispiel Norwegen und Frankreich, wurde über das Risiko der sozialen Ausgrenzung von finanzschwachen Bauern/ Bäuerinnen berichtet, die meistens unverheiratet bleiben, weil Frauen vor den dürftigen Lebensumständen eher zurückschrecken.
Generell verstärkt sich die gesellschaftliche Vereinsamung von einigen sozialen Bevölkerungsgruppen.
Punkt 44: Die Pendelmobilität hilft vielleicht dabei, die Arbeitslosigkeit zu
dämpfen, kann jedoch die Nachfrage nach wichtigen Dienstleistungen von den lokalen DienstanbieterInnen auf nahe gelegene städtische Zentren umleiten, was zu einem Rückgang des lokalen Dienstangebots führt und eine zusätzliche Entbehrung für z.B. ältere Leute und Kinder darstellt.
Der Zugang zum öffentlichen Transportwesen, Punkt 41, spielt auch eine Schlüsselrolle in der Nachfragesteigerung bei Wohnraum im ländlichen Raum.
Auch beim Zugang zu Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen, Punkt 48, findet sich eine Stadt-Land-Disparitätenverschärfung.
Das Bildungswesen zeigt, dass ländliche Gebiete eher Gefahr einer intergenerationellen Übertragung der Armut und Ausgrenzung - von Alt auf Jung - aufweisen, Armut also "vererblich" wird.
Spezifische Probleme des Arbeitsmarktes im ländlichen Raum liegen auch im landwirtschaftlichen Sektor: Einkommensschwache und saisonabhängige Beschäftigungen können zu tiefgreifende Risiken wie Armut und soziale Ausgrenzung führen, etwa bei SaisonarbeiterInnen.
Punkt 89 hält fest, dass die Bildungskluft zwischen Mann und Frau im ländlichen
Raum ausgeprägter ist als im städtischen.
Kinderreiche Familien, d.h. mit vier oder mehr Kindern, sind der Armutsgefährdung am meisten ausgesetzt. Die meistgefährdete Kategorie unter den älteren Personen sind diejenigen, die eine unzulängliche Rente beziehen und diejenigen, die alleine im ländlichen Raum leben.
Punkt 111 bezieht sich explizit auf einen Mangel an angemessenen Daten und Auswertungen: "Die ländlichen Armen Europas sind in offiziellen Statistiken und Dokumenten oft unsichtbar. Der zweite Grund beruht auf die Verhältnisse der ländlichen Armen, die weniger organisiert als die urbanen Armen sind, weil sie geographisch verstreut sind und in abgelegener Lage zu den politischen und wirtschaftlichen Ballungszentren des Landes stehen: diese Faktoren führen dazu, daß sie viel weniger zu Wort kommen als andere armutsgefährdete Gruppen oder Kategorien. Ein dritter Grund hängt von den gegenüber ländlichen Räumen existierenden Stereotypen ab: beispielsweise, daß die Unterstützung der Familien und der Gemeinden im ländlichen Raum stärker ist als im städtischen und, daher Sozialhilfeleistungen an die Armen weniger nötig wären."
Punkt 117: Es ist nachgewiesen, daß Sozialhilfen im ländlichen Raum weniger in Anspruch genommen werden. Viele Studien deuten darauf hin, daß ein besserer Zugang zu Informationen und Beratungen über das Recht auf die Inanspruchnahme von staatlichen Sozialleistungen gewährleistet werden muß. Auch eine im ländlichen Raum maßgebende Kultur der Unabhängigkeit und der Eigenständigkeit ist vermutlich ein Hemmfaktor, wobei weniger staatliche Sozialleistungen bezogen werden. Außerdem ist die Anonymität im ländlichen Raum bei der Erstattung der Sozialleistungen nicht unbedingt garantiert, was ein potentielles Abschreckungsmittel bei der Inanspruchnahme darstellt. Angepasste Beratungsmaßnahmen über diese Möglichkeiten sind daher einzuleiten.
Abschließend bezieht sich die Studie in Punkt 137 auf die Kohäsionspolitik und die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) als zwei primäre europäische Politiken, die zwar beide kein besonderes Augenmerk auf die soziale Eingliederung richten und nicht speziell dafür gedacht sind, die Armut in ländlichen Gebiete zu bekämpfen, aber sie könnten eine potenielle Finanzquelle zugunsten ländlicher Gebiete werden.
Die Frage der Stadt-Land-Gerechtigkeit stellt eine von fundamentalem Interesse dar. Hier einen gesellschaftspolitischen Ausgleich zu schaffen ist eine ressortübergreifende Dringlichkeit, die bislang keinesfalls konsequent angegangen worden ist.
Es wird daher der
Antrag
gestellt:
Der Landtag wolle beschließen:
Die Landesregierung wird aufgefordert,
- Maßnahmen im Bereich ländliche Entwicklung um den Aspekt der Armutsbekämpfung systematisch zu erweitern,
- Barrieren bei der Inanspruchnahme von Sozialleistungen abzubauen,
- regionalisierte, dezentrale, unabhängige Sozialberatungen zu fördern,
- explizit Maßnahmen für kinderreiche Familien und für alleinstehende ältere Frauen - als zwei besonders armutsgefährdete Gruppen - zu entwickeln, sowie
- an den Bund heranzutreten, um die Umsetzung der Erkenntnisse der EU-Studie "Armut und soziale Ausgrenzung im ländlichen Raum" auf Ebene der EU und in Österreich sicherzustellen, und um dahingehend Druck zu erzeigen, dass die Kohäsionspolitik und die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) verstärkt um den Aspekt der sozialen Gerechtigkeit erweitert wird.
Unterschrift(en):
Edith Zitz (Grüne), Ingrid Lechner-Sonnek (Grüne), Lambert Schönleitner (Grüne)