LANDTAG STEIERMARK
XVI. GESETZGEBUNGSPERIODE


EZ/OZ: 3317/1

Selbstständiger Antrag von Abgeordneten (§ 21 GeoLT)

eingebracht am 19.02.2015, 08:53:52


Landtagsabgeordnete(r): Ingrid Lechner-Sonnek (Grüne), Sabine Jungwirth (Grüne), Lambert Schönleitner (Grüne)
Fraktion(en): Grüne
Zuständiger Ausschuss: Bildung
Regierungsmitglied(er): Michael Schickhofer, Franz Voves, Siegfried Schrittwieser

Betreff:
Inklusion: Für eine Schule ohne Aussonderung!

In der Steiermark wurde im Vergleich zu anderen Bundesländern sehr früh mit der Integration von Kindern mit Behinderung ins Regelschulwesen begonnen, und zwar 1985. Die Quote von 85% der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die Volksschulen und Neue Mittelschulen gemeinsam mit allen anderen Kindern besuchen, ist hoch. Im Vergleich zur Anfangsphase, wo Integration als Schulversuch durchgeführt wurde, hat sich jedoch der Ressourceneinsatz eher verschlechtert, keinesfalls weiter entwickelt. Spricht man mit Lehrpersonen, SchulleiterInnen und Eltern, so nimmt man viel Engagement wahr, aber oft auch ein nicht geringes Maß an Überforderung.

"Bis 2020 soll es in der Steiermark keine Sonderschulen mehr geben," formulierte Frau Dr. Edler, die Beauftragte des Landes in Sachen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung ein ehrgeiziges, aber richtiges Ziel. "Die UN-Behindertenrechtskonvention ist ein Meilenstein auf dem Weg zur Inklusion, weil sie die volle Teilhabe von Menschen mit Behinderungen vertritt", stellte sie bei der IASSIDD-Tagung "Inklusive Bildung - jetzt!" im Juli 2014 fest. Das ist eine klare Zielvorgabe. Um sie einhalten zu können, wird es große gemeinsame Anstrengungen brauchen.

Um eine gute Basis für die nötige Entwicklung zu schaffen, müssen die bisherigen Erfahrungen mit Integration wahrgenommen und bearbeitet werden. In zahlreichen Gesprächen mit Eltern, LehrerInnen, SchulleiterInnen und TherapeutInnen haben wir Grüne eine Vielzahl von Hinweisen für das Gelingen von Integration gesehen, aber auch die manigfaltigsten Probleme geschildert bekommen. Eltern werden in nicht wenigen Fällen in unserem Bundesland nach wie vor abgewiesen, wenn sie ihr behindertes Kind in die Volksschule einschreiben lassen wollen - mit dem Hinweis auf fehlendes Betreuungspersonal, wenn die Sonderschulklassen noch nicht ausreichend belegt sind oder auch ohne jegliche Angabe von Gründen. Oftmals werden Kinder mit Sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) nach Hause geschickt, wenn die Betreuungsperson nicht zur Verfügung steht - und das in manchen Fällen monatelang! Es kann auch Wochen und Monate dauern, bis Anträge auf Betreuungs- bzw. Pflegepersonal bearbeitet werden. In dieser Zeit müssen die betroffenen Kinder zuhause warten. Man kann sich vorstellen, was das für das Kind und die Klassengemeinschaft bedeutet.
Manche Eltern haben die Befürchtung geäußert, dass Inklusion zum Verlust der intensiven Förderung ihres Kindes führen könnte, die es derzeit in der Sonderschule erhält. Dieser Befürchtung haben sich auch etliche SonderschulpädagogInnen angeschlossen. LehrerInnen und SchulleiterInnen haben oft kein Bild davon, wie Inklusion gut funktionieren könnte. Vielfach wurde auf die jetzt schon zu geringen Ressourcen hingewiesen und auf die manigfaltigen Aufgaben, die der Unterricht zu erfüllen habe.

Dass die Einführung von Inklusion sich im Austauschen des Türschildes erschöpfen könne, man aber ohne weitere Unterstützung mit den neuen Anforderungen fertig werden müsse, wurde oft als Sorge genannt. Das ist verständlich, da es keine hilfreichen Aussagen dazu gibt. Dass weder von Seiten der Politik noch von Seiten der Schulverwaltung, aber auch Schulentwicklung Inklusion als Thema genannt werde, beunruhigt viele der Betroffenen - angesichts des Ziels, dass bis 2020 Inklusion umgesetzt sein solle. Auch über die neue Modellregion war bzw. ist nichts bekannt. Dass mögliche Ergebnisse aus dieser Region dann einfach auf die anderen umgelegt werden könnten, wurde von vielen in Zweifel gezogen. Hier einfach Ergebnisse abzuwarten, in den anderen Regionen aber nicht einmal die Situation der Integration mit ihren vielfältigen Erfolgen, Herausforderungen, Problemen usw. zu bearbeiten, sahen viele als ungenügend an. Die Ist-Situation in ihrer ganzen Heterogenität und Komplexität ist freilich die Ausgangssituation für einen gelingenden Prozess in Richtung Inklusion. Es wird den Einsatz und den Willen aller Beteiligten brauchen, also sollte man sie auch von Anbeginn einbeziehen.

Die Einbeziehung guter Beispiele in unserem Bundesland, aber auch über Ländergrenzen hinweg, kann Möglichkeiten gelungener Inklusion aufzeigen und so die Hemmschwellen beseitigen. Die Gesamtschule Göttingen, die vor zwei Jahren vom Bildungsausschuss des Landtages Steiermark besucht wurde, stellt so ein Beispiel dar.

Aus den zahlreichen, oben erwähnten Gesprächen, wie auch aus Interviews mit ExpertInnen kristallisieren sich einige Punkte heraus, an denen anzusetzen ist:

Inklusion ist nicht nur Aufgabe der SonderschullehrerInnen: Inklusion geht uns alle an, sie kann nicht auf einzelne Gruppen, Klassen und Personen eingeschränkt werden. Inklusion muss ein Anliegen aller sein, die an der Schule beteiligt sind. Dafür ist es nötig, die Erfahrungen, Sorgen und Beiträge der Eltern, LehrerInnen, SchulleiterInnen, der Betreuungspersonen, der TherapeutInnen, der Schulerhalter usw. ernst zu nehmen und in die gemeinsame Entwicklungsarbeit einzubeziehen. Von Seiten des Landesschulrates muss Inklusion zu einem wesentlichen Schwerpunkt der Schulentwicklung gemacht werden. Dafür braucht es auch eine bessere und inhaltlich anspruchsvollere Verankerung der Inklusion als hochrangiges Bildungsziel im Regionalen Bildungsplan der Steiermark. "In einem inklusiven System richten sich nicht die Kinder nach der Schule, sondern die Schule passt sich den Kindern an. Eine Schule für alle soll hierdurch entstehen," fasste Frau Mag.a Ferstl vom LSR Steiermark dies beim Inklusionsdialog 2014 zusammen.

Inklusion braucht Kompetenz: Diese zu bündeln und planerisch, wie auch situativ einzusetzen ist ein wesentlicher Punkt, wenn Inklusion gelingen soll. Die Zentren für Inklusion und Sonderpädagogik (früher Sonderpädagogische Zentren) sind der logische Ort für diese Fachkompetenz. Sie sollen in ihrer jeweiligen Region die Ressourcen flexibler als bisher steuern können, um Förderung bzw. Unterstützung des Unterrichts dem Bedarf entsprechend abdecken zu können. Diese Kompetenzzentren müssen mit allen Schulen der Region und anderen relevanten Institutionen vernetzt sein und können so den Dreh- und Angelpunkt der Fördermaßnahmen darstellen.  Diese Aufgabe erfordert hohes pädagogisches Wissen, aber auch Erfahrung im Unterricht und in der Organisation. Die bisher übliche Anbindung der ZISP an Allgemeinen Sonderschulen führt zu einer Interessenskollission, die sich in manchen Regionen der Steiermark zeigt. Eine Trennung der Funktionen ist vorzunehmen, wie es z.B. das Bundesland Kärnten schon vor Jahren getan hat. Die Änderung der Gesetzesgrundlagen auf Bundesebene kann dafür hilfreich sein, Voraussetzung ist sie jedoch nicht, wie Kärnten zeigt. Dass das Fachwissen und die Erfahrung auch speziell der SonderpädagogInnen genützt bzw. ausgebaut werden muss, liegt auf der Hand.

Inklusion braucht eigene Rahmenbedingungen: Barrierefreiheit in allen Formen, die Gebärdensprache als Unterrichtssprache, technische Unterstützungssysteme  usw. sind gut nachvollziehbar wesentliche Bausteine einer Schule für alle. Darüber hinaus braucht es jedoch individuelle Unterstützung, die dem Bedarf der einzelnen Kinder entspricht - was übrigens für alle Kinder gilt, nicht nur für jene mit einer Behinderung! Dementsprechend wird mittel- und langfristig die Bindung von Förderung an einen dem einzelnen Kind mit Behinderung zugeschriebenen Sonderpädagogischen Förderbedarf zu lösen sein, was dem inklusiven Zugang entspricht. Auf der Basis der begründeten Annahme, dass viele Kinder aus verschiedensten Gründen (nicht nur aufgrund einer Behinderung!) verschiedenen Bedarf an Förderung haben, um ihr Potenzial ausschöpfen zu können, wird es um individuelle Förderung gehen müssen, die auch präventiven Charakter haben kann. Der niederschwellige Zugang zu Förderressourcen muss dafür gegeben sein. Es wird also in Zukunft darum gehen müssen, Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit so wahrzunehmen, dass jedes Kind die Hilfestellungen bekommt, die es für die eigene Entwicklung im Rahmen der Schule braucht. Die dafür nötigen Pläne und Strukturen sind mit den in der Schule Tätigen unter Einbindung der Eltern zu erstellen, wobei den ZISPs eine besondere Rolle zukommt. Auch die mangelhafte Abstimmung von SPF-Zuerkennung zur Ressourcenlage wird damit der Vergangenheit angehören. Was ein Bescheid wert ist, der pädagogische und/oder pflegerische Unterstützung zuerkennt, die mit Hinweis auf fehlende Stunden dann aber nicht zur Verfügung gestellt werden, ist keine akademische Frage, sondern reales Ärgernis für Eltern, die oft monate- oder jahrelang im Kreis geschickt werden, während ihre Kinder auf den Schulbesuch oder die für sie nötige Unterstützung verzichten müssen.  Die Behörde hat 6 Monate Zeit, bis sie entscheiden muss. Wenn laut WHO etwa 0,9% der Kinder mit einer schweren Behinderung lebt, müssen auch die Mittel für ihre Bildung zur Verfügung stehen, z.B. als Sockelbetrag  für schwer und schwerst behinderte Kinder. Der flexiblere Einsatz von Ressourcen kann auf der anderen Seite auch zur Verbesserung der Arbeitssituationen führen.

Inklusion braucht eine andere Ressourcenverteilung: Die Erfahrungen vieler Jahre lassen den Schluss zu, dass die Integrationsklassen mit zwei Lehrpersonen, die ein Team bilden, den besten Erfolg aufweisen. Das ausreichende Vorhandensein von Betreuungs- bzw. Pflegepersonal ist jedoch ein ebenso bedeutender Faktor. Hierzu berichteten Eltern in unseren Diskussionsrunden von sehr schwerwiegenden Einschränkungen durch die zuständigen Stellen. Mit Hinweis auf die als zu hoch bezeichneten Kosten wurden und werden Eltern fallweise dazu eingeteilt, selbst im Unterricht als Betreuungsperson anwesend zu sein, damit ihr Kind die Schule überhaupt besuchen kann. Bei Ausfall der Betreuungs- und Pflegekraft wurden Kinder "vom Schulbesuch suspendiert", was eine Bewilligung durch den Landesschulrat erfordert und maximal 4 Wochen dauern darf. Trotzdem läuft es bei manchen Kindern monatelang darauf hinaus, dass sie die Schule nicht besuchen dürfen. Manchen Kindern wurde nach Angaben der Eltern mit Hinweis auf fehlende Betreuungspersonen das Aufsteigen in die nächsthöhere  Klasse verwehrt. Regionale Unterschiede lassen den Schluss zu, dass das Angebot von Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung in der Region darauf Einfluss hat, ob Kinder mit SPF die Regelschule besuchen können. "Wir hören immer nur, was unser Kind kostet. Das ist unwürdig!" sprach eine Mutter vielen Eltern aus der Seele. In manchen Regionen braucht es offensichtlich nicht einmal einen Grund, weshalb der Besuch einer Volksschule einem behinderten Kind verweigert wird.
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Inklusion braucht eine andere Steuerung der Ressourcen. Den Einsatz der SonderpädagogInnen zu entscheiden, wie auch die Entwicklung der Förderpläne der einzelnen Kinder zu begleiten und anzuleiten, ist eine Aufgabe innerhalb der Region und sollte dem ZISP zugeordnet werden. Ausreichend Ressourcen für das Lehrpersonal zu Verfügung zu stellen, ist Aufgabe des Landes. Dafür muss auf Bundesebene auf eine Erhöhung des absolut unzureichenden 2,3%-Schlüssels für Sonderpädagogik hingearbeitet werden, zumindest auf 5%. Die Zuerkennung von Betreuungs- und Pflegepersonal, wie auch von therapeutischen Hilfen ist zu vereinfachen und von Widersprüchen zwischen rechtskräftiger Zuerkennung und Verweigerung mit Hinweis auf Ressourcengründe zu bereinigen. Die PädagogInnen und SonderpädagogInnen mittels Supervision, Coaching und Fortbildungen in ihrer Arbeit und der Entwicklung eines inklusiven Schulsystems zu unterstützen, ist vom Land in Kooperation mit dem Landesschulrat finanziell abzusichern und regional einzusetzen. Die Schulentwicklung, die vonseiten der Pädagogischen Hochschulen in Kooperation mit dem Landesschulrat sehr gut läuft, ist auf das Ziel der Inklusion hin zu erweitern.

Inklusion braucht Zeit: Die Inklusive Modellregion wird die Bezirke Graz, Graz Umgebung und Voitsberg umfassen. Fünf Jahre vor dem Zielpunkt 2020 kann man jedoch nicht einfach warten, bis in anderen Regionen die Entwicklung Richtung Inklusion beginnen darf. Alle Regionen der Steiermark sind in die Entwicklung einzubeziehen. Den Ist-Stand der Integration qualitativ zu erheben, die Probleme, aber auch Lösungen als Entwicklungsmöglichkeiten herauszuarbeiten, bietet eine gute Grundlage, auch für die Beteiligung aller betroffenen Gruppen. Änderungen der Gesetzeslage sind anzustreben, die pädagogische und strukturelle Entwicklung einer inklusiven Schule muss anlaufen. Die Fachabteilung 6A, der Landesschulrat, aber auch der Landtag müssen sich endlich klar zum Ziel der Inklusion bekennen und den Weg gemeinsam beschreiten. Inklusion ist ein fix verankertes Ziel im Regierungsprogramm der Bundesregierung, weil Österreich die UN-Konvention ratifiziert und damit umzusetzen hat.

Es wird daher der

Antrag

gestellt:

Der Landtag wolle beschließen:

Die Landesregierung wird aufgefordert,

1. das Ziel der Inklusion dezitiert im Regionalen Bildungsplan Steiermark zu verankern und so das klare Bekenntnis zur inklusiven Schule, die keine Kinder aussondert, abzugeben,
2. den Landesschulrat anzuweisen, Inklusion als wichtigen Schwerpunkt der Schulentwicklung zu verankern,
3. gemeinsam mit dem Landesschulrat die Zentren für Inklusion und Sonderpädagogik (ZISP) aufgrund der bestehenden Interessenskollision organisatorisch von den Sonderschulen zu trennen und als Kompetenzzentren für Inklusion mit der Ressourcensteuerung des Lehrpersonals und der Betreuungs- und Pflegedienste, der Entwicklung individueller Förderpläne gemeinsam mit den Betroffenen, der Unterstützung der Lehrkräfte durch Supervision, Coaching und Fortbildungsangebote usw. auszubauen,
4. die Bindung von Fördermaßnahmen an die Zuerkennung eines Sonderpädagogischen Förderbedarfs als der Inklusion gegenläufige und zu schwerfällige Form aufzuheben mit dem Ziel, bedarfs- und entwicklungsgerechte Fördermaßnahmen für alle Kinder als Grundlage für den Unterricht anzustreben,
5. die Inanspruchnahme von Betreuungs- und Pflegepersonal klar und widerspruchsfrei zu regeln und zu vereinfachen, um den ununterbrochenen Schulbesuch von Kindern mit Behinderung sicherzustellen,
6. die Inanspruchnahme der nötigen technischen Unterstützungssysteme sowie den Einsatz von Lehrpersonen bzw. Betreuungspersonen, die die Gebärdensprache beherrschen, zu vereinfachen und abzusichern, damit den Eltern ein langer Hürdenlauf erspart und der Unterricht unterstützt wird,
7. gemeinsam mit den Gemeinden als Schulerhalter auf die Barrierefreiheit hinzuarbeiten, die nicht nur bewegungseingeschränkte, sondern auch hör- und sehbehinderte SchülerInnen und Lehrpersonen unterstützt,
8. dem Bund gegenüber auf eine Anhebung des Faktors 2,3 % für den Mitteleinsatz für die Bildung von Kindern mit Behinderung auf mindestens 5 % zu erhöhen und damit einen Sockelbetrag abzusichern, der der Repräsentation von Kindern mit Behinderung in der Bevölkerung entspricht, und
9. diese Veränderungen für alle Regionen der Steiermark umzusetzen und nicht nur die Modellregion, sondern alle ZISPs und Schulen aktiv auf dem Weg zur Inklusion mitzunehmen.


Unterschrift(en):
Ingrid Lechner-Sonnek (Grüne), Sabine Jungwirth (Grüne), Lambert Schönleitner (Grüne)